16

 

In ganz Parolando lebten etwa tausend Menschen, aber dennoch würde das große Flußboot nur eine Besatzung von ein-hundertzwanzig haben. Zwanzig davon wußten bereits mit Sicherheit, daß sie auf der Mannschaftsliste standen: Sam und Joe Miller, Lothar von Richthofen, van Boom, de Bergerac, Odysseus, drei Ingenieure, König John und deren Begleiterinnen war dies fest versprochen worden. Der Rest würde erst einige Tage vor dem Stapellauf erfahren, ob er umsonst oder mit einem Ziel vor Augen gearbeitet hatte: Dann würden die Namen der übrigen auf kleine Zettel geschrieben, in eine aus Draht konstruierte Lostrommel geworfen und herumgewirbelt werden, bis Sam sie anhielt und nach und nach – mit verbundenen Augen – hundert Namen aus ihr herauszog. Und die Glücklichen, deren Namen vorgelesen werden würden, konnten sich von da an zur Besatzung der Nicht vermietbar zählen.

Die Nicht vermietbar mußte, wenn die Angaben des Fremden stimmten, an die fünf Millionen Meilen zurücklegen. Wenn man einen Durchschnitt von 335 Meilen pro vierundzwanzig Stunden rechnete, würde es mehr als einundvierzig Jahre dauern, bis das Ende des Flußlaufes erreicht war. Aber natürlich war das die unterste Zeitgrenze, denn unzweifelhaft würde die Mannschaft dann und wann für längere Zeit an Land gehen oder Reparaturen auszuführen haben. Es war nicht einmal unmöglich, daß das Schiff an reinem Verschleiß zugrunde ging, ungeachtet der Tatsache, daß Sam versuchen wollte, so viele Ersatzteile wie nur möglich mitzunehmen. Wenn es erst einmal unterwegs war, gab es keine Möglichkeit mehr umzukehren oder anderswo das an Bord zu nehmen, was man benötigte: Das Land, das vor ihnen lag, enthielt kein Metall, das ihnen von Nutzen sein konnte.

Es war ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, daß er einhundertvierzig Jahre alt sein würde, wenn sie die Quellen des Flusses endlich erreichten.

Aber was zählte das schon, wenn eine mehrtausendjährige Jugend vor einem lag?

Sam warf einen Blick durch die gewölbten Fenster. Die Ebene war jetzt voller Menschen, die von den Hügeln herabkamen und in die Fabriken strömten. Ebenso würde es in jenen Hügelzonen aussehen, die er im Moment nicht einsehen konnte. Eine kleine Armee mußte jetzt damit beschäftigt sein, an dem großen Damm im Nordwesten, direkt am Fuß der Berge, zu arbeiten: Dort entstand zwischen zwei steilen Hügeln eine Betonmauer, die das Wasser auffangen sollte, das von einer in den Bergen liegenden Quelle herabsprudelte. Wenn der hinter der Mauer liegende Stausee erst einmal voll war, würde das überflüssige Wasser ihnen dazu dienen, Generatoren anzutreiben, die die Mühlen in Bewegung versetzten.

Gegenwärtig kam die benötigte Energie aus einem Gralstein. Ein gigantischer Transformator aus Aluminium entnahm ihm die Energie dreimal am Tag und führte sie durch Aluminiumleitungen einer zweistöckigen Anlage zu, die man den Batacitor nannte. Hierbei handelte es sich um eine Erfindung des späten zwanzigsten Jahrhunderts, die in einer hundertstel Mikrosekunde Hunderte von Kilovolt in sich aufnehmen und in Einheiten zwischen einem Zehntel Volt bis hundert Kilovolt wieder abgeben konnte. Bei dieser Apparatur handelte es sich um den Prototyp des Geräts, das später auf der Nicht vermietbar eingesetzt werden würde. Zur Zeit wurde die Energie hauptsächlich zu einem von van Boom entwickelten Zerkleinerungsverfahren verwendet, um die Nickeleisenstücke zu zerschneiden, die man aus der Ebene grub. Natürlich wurde sie ebenfalls dazu verwendet, das Metall zu schmelzen. Das Aluminium für die Leitungen und den Batacitor selbst waren unter harter Arbeit aus Aluminiumsilikat angefertigt worden, den man dem Lehm, der unter dem Grasboden am Fuß der Berge lag, entnommen hatte. Aber diese Quelle war jetzt versiegt. Der einzige auf ökonomisch vernünftigem Wege abzubauende Rohstoff lag in Soul City.

Sam setzte sich an seinen Schreibtisch, zog eine Schublade heraus und entnahm ihr ein großformatiges, in Fischblasenleder gebundenes Buch, dessen Seiten aus Bambusfaserpapier hergestellt waren. Es war sein Tagebuch und trug den Titel Die Memoiren eines Lazarus. Bisher hatte er, um seine Reflexionen und die alltäglichen Geschehnisse, die ihm wichtig erschienen, niederschreiben zu können, dies mit einer Tinte getan, die aus Wasser, dem bräunlichen Extrakt von Eichenrinde und frischer Holzkohle bestand. Wenn die Technologie von Parolando erst einmal genügend fortgeschritten war, würde er irgendwann den elektronischen Aufzeichner benutzen, den van Boom ihm versprochen hatte.

Er hatte kaum mit seinen Aufzeichnungen angefangen, als die Trommeln zu schlagen begannen. Die großen Baßtrommeln signalisierten Bindestriche, die kleinen Soprantrommeln Punkte. Sie bedienten sich des Morsealphabets in Esperanto.

Von Richthofen würde in ein paar Minuten anlegen.

Sam stand erneut auf und blickte hinaus. In einer Entfernung von einer halben Meile war der Bambus-Katamaran zu erkennen, mit dem Lothar von Richthofen zehn Tage zuvor flußabwärts gereist war. Durch das Steuerbordfenster sah Sam eine gedrungene Gestalt mit dunkelbraunem Haar durch den Ausgang von König Johns Pfahlpalast gehen. Hinter ihm kamen seine Leibwächter und Speichellecker.

Offensichtlich wollte er verhindern, daß von Richthofen Sam Clemens irgendwelche geheimen Botschaften von Elwood Hacking überbrachte.

Der Ex-Monarch von England und gegenwärtige Mitbeherrscher von Parolando trug einen rotweißkarierten Kilt, einen aus Tüchern bestehenden ponchoartigen Umhang und knielange Flußdrachenstiefel. Um seine fetten Hüften schlang sich ein breiter Gürtel, an dem mehrere stählerne Messer in Scheiden, ein Kurzschwert und eine Stahlaxt baumelten. In einer Hand hielt er ein eisernes Koronet, das Zeichen seiner adligen Abkunft. Auch dies hatte einst zu den Streitpunkten zwischen ihm und Sam gehört, da dieser es für eine reine Verschwendung von Metall hielt, sich mit Zeptern zu behängen. Zudem hielt Sam dieses Ding für einen sinnlosen Anachronismus; aber John hatte darauf bestanden, und so hatte er schließlich nachgeben müssen.

Immerhin empfand er einige Befriedigung, wenn er an den Namen dachte, den sie ihrem kleinen Land gegeben hatten: Parolando war Esperanto und bedeutete, da diese Region zwei Herrscher aufzuweisen hatte, Zweierland. Was Sam König John allerdings wohlweislich verschwiegen hatte, war, daß man es ebenso gut mit Twainland* übersetzen konnte.

John ging über einen Pfad aus festgetretener Erde an einem langgestreckten, niedrigen Fabrikgebäude vorbei und näherte sich Sams Hauptquartier. Sein Leibwächter, ein riesiger Schläger namens Sharkey, betätigte für ihn die Klingel.

 

* »Mark Twain«, das Pseudonym des Schriftstellers Samuel Langhorne Clemens, ist von einem Begriff aus der Mississippi-Missouri-Schiffahrt abgeleitet und bedeutet soviel wie »zwei Faden Tiefe«. Clemens selbst war jahrelang Lotse auf Mississippi-Dampfschiffen. So wählte er diesen Ausdruck, als er zu schreiben begann, zu seinem Schriftstellernamen.

 

Sam steckte den Kopf aus dem Fenster und rief: »Komm an Bord, John!«

König John warf ihm von unten herauf aus seinen blaßblauen Augen einen Blick zu und forderte dann Sharkey auf, allein vorzugehen. Er vermutete überall Meuchelmörder – und das nicht ohne Grund. Außerdem paßte es ihm nicht, daß er zu Sam kommen mußte, anstatt daß dieser sich dazu bequemte, bei ihm aufzutauchen; aber da er genau darüber im Bilde war, wen von Richthofen als ersten aufsuchte, hatte er keine andere Wahl.

Sharkey trat ein, inspizierte Sams Brücke und schnüffelte auch in den anderen Räumen herum. Plötzlich erklang ein grollendes, tiefes Brummen, wie von einem Löwen. Es kam aus dem hinteren Schlafraum. Eilig kehrte Sharkey zurück und zog leise die Tür hinter sich zu.

Sam lächelte und sagte: »Joe Miller mag zwar krank sein, aber er ist auch dann noch dazu fähig, zehn Preisboxer zum Frühstück zu verzehren und anschließend einen Nachschlag zu verlangen.«

Sharkey gab keine Antwort. Er gab John durch das Fenster das Signal, daß er hinaufkommen könne, ohne etwas befürchten zu müssen.

Der Katamaran hatte nun angelegt, und die kleine Gestalt von Richthofens kam, in der einen Hand einen Gral, in der anderen den mit hölzernen Schwingen ausgestatteten Parlamentärsstab, über die Ebene. Durch ein anderes Fenster sah er die schlaksige Figur Bergeracs, der eine Gruppe von Männern auf den Südwall zuführte. Livy war nirgendwo zu entdecken.

John trat ein.

»Bonom matenon, Johano«, sagte Sam.

Es stank John gewaltig, daß Sam sich weigerte, ihn mit Via Rega Mosto – Eure Majestät – anzusprechen. Sogar die offiziellen Titel, die sie beide in Parolando trugen – La Konsulo –, kamen selten freiwillig über Sams Lippen. Es gefiel ihm einfach, sich von den anderen La Estro, der Boß, nennen zu lassen, weil das John noch mehr ärgerte.

Mit einem Grunzen ließ John sich an Sams rundem Tisch nieder. Ein anderer seiner Leibwächter, ein großer, finsterer Frühmongole mit schweren Knochen und unglaublich starken Muskeln, der Zaksksromb hieß und mindestens dreißigtausend Jahre vor Christus das Zeitliche gesegnet hatte, zündete John eine riesige, braune Zigarre an. Zak, das war allgemein bekannt, war der stärkste Mann in Parolando – nach Joe Miller, der, wenn man genau war, nicht zu den Menschen gehörte; zumindest aber kein Vertreter der Gattung Homo sapiens war.

Sam wünschte sich, daß Joe aufstand. Zak machte ihn nervös. Aber daraus würde wohl nichts werden, denn Joe hatte Traumgummi genommen, um seine Schmerzen zu betäuben. Zwei Tage zuvor war er von einem herabstürzenden Felsen getroffen worden, der sich von einem Kran gelöst hatte. Zwar hatte der dafür verantwortliche Arbeiter Stein und Bein geschworen, daß es ein Unfall gewesen sei, aber Sam hatte so seine Vermutungen.

Er stieß einen Rauchkringel aus und sagte: »Hast du in letzter Zeit irgendwas von deinem Neffen gehört?«

John zeigte keine Überraschung, wenn man davon absah, daß sein Blick mißtrauischer wurde. Er starrte Sam über den Tisch hinweg an und erwiderte: »Nein. Sollte ich das?«

»Es war nur eine Frage. Ich habe darüber nachgedacht, ob wir Arthur nicht zu einer Konferenz einladen sollten. Es hat doch keinen Sinn, wenn ihr es darauf anlegt, euch gegenseitig umzubringen. Wir sind hier nicht mehr auf der Erde, wie du weißt. Ist es denn nicht möglich, all die früheren Streitigkeiten zu vergessen? Was hättest du davon, wenn du ihn in einen Sack steckst und im Fluß versenkst? Laß Vergangenes vergessen sein. Wir könnten sein Holz gut gebrauchen und benötigen dringend mehr Kalkgestein für Kalziumkarbonat und Magnesium. Und er hat eine Menge davon.«

John starrte ihn an, dann senkte er den Blick und lächelte.

Der hinterfotzige John, dachte Sam. Der aalglatte John. Das absolute Schlitzohr.

»Wenn wir an Kalkstein und Holz herankommen wollen«, führte John aus, »müssen wir mit Eisenwaren dafür bezahlen. Und ich habe nicht das geringste Interesse daran, daß mein braver Neffe noch mehr davon in die Hände bekommt.«

»Ich dachte bloß, es sei besser, dir vorher von der Sache zu erzählen«, sagte Sam, »weil ich heute Mittag…«

John verkrampfte sich. »Ja?«

»Nun, ich dachte, es sei ein ganz guter Gedanke, diese Idee dem Rat vorzulegen. Wir sollten darüber abstimmen.«

John entspannte sich wieder. »Oh?«

Sam dachte: Du fühlst dich deswegen so sicher, weil Pedro Anseurez und Frederick Rolfe auf deiner Seite sind und eine Abstimmung mit dem Ergebnis 5:3 einen Antrag zurückweist.

Erneut nahm er sich vor, bei nächster Gelegenheit die Magna Charta zu ändern, damit jene Dinge, die einfach getan werden mußten, auch getan werden konnten. Aber ein solches Unternehmen konnte einen Bürgerkrieg bedeuten – und das Ende seines Großen Traumes.

Während John mit lauter Stimme von der Eroberung seiner letzten Blondine berichtete, lief Sam ungehalten auf und ab. Er versuchte die detailliert ausgeschmückte Geschichte einfach zu ignorieren und wurde fast verrückt bei dieser unglaublichen Prahlerei, denn bisher hatte sich noch immer jede Frau, die sich John freiwillig hingegeben hatte, anschließend nichts als allgemeinen Spott zu ertragen gehabt.

Wieder klingelte die kleine Glocke. Dann trat von Richthofen ein. Er trug das Haar nun lang und sah mit seinen leicht slawischen Gesichtszügen und der schlankeren Gestalt wie ein gutaussehender Bruder Görings aus. Die beiden kannten sich übrigens bereits aus dem Ersten Weltkrieg, wo sie beide unter Manfred von Richthofen, Lothars prominentem Bruder, gedient hatten. Lothar war ein temperamentvoller, quicklebendiger und grundsätzlich sympathischer Bursche, aber an diesem Morgen war von seinem Lächeln und seiner Freundlichkeit nicht viel übriggeblieben.

»Wie lauten die schlechten Nachrichten?« fragte Sam.

Lothar nahm den Becher mit Bourbon, den Sam ihm anbot, in die Hand, stürzte den Inhalt hinunter und erwiderte: »Sinjoro Hacking hat die Befestigungsarbeiten von Soul City nahezu beendet. Die Mauern sind jetzt zwölf Fuß hoch und an allen Seiten nicht weniger als zehn dick. Hacking hat sich mir gegenüber unverschämt verhalten; sehr unverschämt sogar. Er nannte mich einen Ofejo und einen Honkio, das sind Ausdrücke, die sogar mir neu sind. Ich habe mich auch nicht gewagt, ihn darum zu bitten, sie mir zu übersetzen.«

»Ofejo könnte vom englischen Ofay abgeleitet sein«, sagte Sam, »aber das andere Wort habe ich noch nie gehört. Was sagte er? Honkio?«

»In Zukunft wirst du es garantiert noch des öfteren zu hören bekommen«, meinte Lothar, »jedenfalls dann, wenn du es mit Hacking zu tun bekommst. Und das wirst du. Er kam, nachdem er einige tausend kränkende Ausdrücke ausgespuckt hatte, die meine nationalsozialistischen Nachfahren betrafen, endlich zur Sache. Solange ich auf der Erde lebte – wo ich 1922 bei einem Flugzeugabsturz starb, wie du weißt –, habe ich den Ausdruck >Nazi< nicht einmal gehört. Auf jeden Fall schien er sich ziemlich zu ärgern, obwohl ich nicht sicher bin, ob sein Ärger in irgendeinem Zusammenhang mit mir stand. Die Essenz seiner Rede jedenfalls war, daß er vorhat, den Abbau des Bauxits und der anderen Mineralien einzustellen.«

Sam lehnte sich auf den Tisch, bis sein Bewußtsein diese Nachricht verarbeitet hatte. Dann sagte er: »Das sind finstere Dinge, die du mir da erzählst.«

Von Richthofen fuhr fort: »Es sieht ganz so aus, als sei Hacking mit dem Aufbau seines Staates nicht sonderlich zufrieden. Seine Bewohner sind zu einem Viertel Schwarze aus Harlem, die zwischen 1960 und 1980 starben; zu einem Achtel Schwarze aus dem Dahomey des achtzehnten Jahrhunderts. Aber er hat auch einen Fünfundzwanzig-Prozent-Anteil an dem vierzehnten Jahrhundert entrissenen nichtschwarzen Wahhabi-Arabern, und das sind Fanatiker, die immer noch an ihren Propheten Mohammed glauben und darauf bestehen, daß das Leben auf dieser Welt nur eine kleine Zwischenperiode darstellt, in der über sie gerichtet werden soll. Ein weiteres Viertel seiner Leute besteht aus einer Mischung von Indern und dunkelhäutigen Kaukasiern des dreizehnten Jahrhunderts und einem weiteren Achtel von Menschen aus allen möglichen Gegenden und Zeiten, von denen die Mehrheit aus dem zwanzigsten Jahrhundert kommt.«

Sam nickte. Obwohl die wiedererweckte Menschheit aus Personen bestand, die etwa zwischen 2.000.000 v. Chr. und 2008 n. Chr. gelebt hatten, war ein Viertel aller Menschen erst nach 1899 geboren worden – wenn die Schätzungen richtig waren.

»Hacking möchte Soul City zu einem Staat der Schwarzen machen. Er verriet mir, daß er auf der Erde sogar einmal zu denjenigen gehört habe, die eine Rassenintegration für möglich hielten. Die jungen Weißen seiner Tage waren größtenteils frei von den Vorurteilen ihrer Eltern gewesen, das hatte ihm Hoffnung gemacht. Jetzt aber halten sich innerhalb der Grenzen seines Landes viel zu wenig dieser Leute auf und zudem machen ihn die Wahhabi-Araber beinahe verrückt. Wußtet ihr, daß Hacking auf der Erde ein Moslem war? Er war zuerst ein Mitglied der Black Muslims, einer rein amerikanischen Sekte, doch dann schloß er sich den echten Mohammedanern an, machte eine Pilgerreise nach Mekka und glaubte, daß die dort lebenden Araber, auch wenn sie zu den Weißen zählten, keine Rassisten seien.

Aber das Massaker der sudanesischen Araber an ihren schwarzen Landsleuten und die Geschichte der arabischen Negersklaverei verunsicherten ihn immer mehr. Diese Wahhabi-Araber sind zwar keine Rassisten – aber religiöse Fanatiker können einem noch mehr Schwierigkeiten aufhalsen. Hacking sprach über diese Probleme zwar nicht offen, aber ich konnte in den zehn Tagen, in denen ich mich bei ihm aufhielt, genug davon mit meinen eigenen Augen sehen. Die Wahhabis sind drauf und dran, die ganze Stadt zum Islam zu bekehren – und wenn sie es nicht auf friedlichem Wege erreichen, werden sie es mit Feuer und Schwert versuchen. Hacking möchte sie und die Draviden, die sich wiederum jedem Afrikaner, ganz gleich welcher Hautfarbe, für überlegen halten, am liebsten sofort loswerden. Er wäre bereit, uns auch weiterhin Bauxit zu geben, vorausgesetzt, wir erklären uns damit einverstanden, daß wir ihm alle unsere schwarzen Bürger zuführen und dafür seine Araber und Draviden abnehmen. Außerdem will er geschmiedete Waffen und einen größeren Anteil am Rohmaterial.«

Sam stöhnte auf. König John spuckte auf den Fußboden. Sam runzelte die Stirn, warf ihm einen finsteren Blick zu und sagte: »Merdo, Johano! Nicht einmal einem Großkopfeten wie dir gestatte ich es, auf meine Brücke zu rotzen! Verstanden? Entweder benutzt du den Spucknapf oder du gehst nach draußen!«

Als König John die Zähne fletschte, zwang er sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Es war jetzt nicht die richtige Zeit für eine Konfrontation. Dieser aufgeblasene Ochsenfrosch würde sich niemals dazu zwingen lassen, sich über einen Spucknapf zu beugen, selbst wenn er direkt vor ihm stehen würde.

Sam fuchtelte mit den Händen und sagte: »Ach, vergiß das Ganze, John. Spuck doch hin, wo du willst.« Allerdings konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Solange ich das gleiche Privileg in deinem Hause genieße, natürlich.«

John brummte und stopfte sich Schokolade in den Mund. Sein ganzer Habitus drückte aus, daß er nicht weniger geladen war als Sam und allergrößte Mühe hatte, die Selbstbeherrschung zu wahren.

»Dieser schwarze Sarazene Hacking hat jetzt schon zuviel bekommen«, knurrte er. »Ich sage euch, daß wir die Hand dieses Schwarzen jetzt lange genug geküßt haben. Seine unverschämten Forderungen haben den Bau unseres Seglers jetzt lange genug verzögert, und…«

»Ein Motorschiff bauen wir, John«, sagte Sam, »kein Segelschiff!«

»Boato, smoato. Ich sage euch, laßt uns Soul City erobern, die Leute da an die Arbeit jagen und die Mineralien hierher bringen. Dann könnten wir das Aluminium an Ort und Stelle herstellen. Wir könnten sogar das ganze Schiff dort unten fertig stellen. Und damit wir sicher sein können, daß niemand uns dabei stört, könnten wir gleich auch noch alle anderen Reiche, die zwischen Parolando und Soul City liegen, mit unterwerfen.«

Größenwahn-John.

Dennoch konnte Sam nicht umhin, ihm in einer Beziehung recht zu geben. In etwa einem Monat würde Parolando die Waffen haben, die das Land genau zu dem befähigen würden, was John vorgeschlagen hatte. Bedenklich war nur, daß Publia ihnen freundlich gesonnen war (und keine allzu hohen Preise berechnete), und Tifonujo (wo man nahm, was man nur kriegen konnte) ihnen erlaubt hatte, den Waldbestand abzuholzen. Es war allerdings auch nicht unmöglich, daß beide Staaten nur deswegen ihr Holz gegen Eisen eingetauscht hatten, weil sie beabsichtigten, mit den daraus geschmiedeten Waffen Parolando zu überfallen.

Und die Wilden auf der anderen Seite des Flusses planten eventuell ein ähnliches Husarenstück.

»Ich bin noch nicht fertig«, wandte von Richthofen ein. »Hacking unterbreitete mir sein Angebot unter vier Augen, und es wird zu keinen weiteren Verhandlungen kommen, bevor wir ihm nicht einen schwarzen Unterhändler schicken. Er ließ mich erkennen, wie beleidigt er sich dadurch fühlte, daß du ihm einen Preußen schicktest. Aber er wird das sicher vergessen, wenn wir ihm erst einmal ein schwarzes Ratsmitglied geschickt haben.«

Sam fiel beinahe die Zigarre aus dem Mund.

»Aber wir haben doch gar kein schwarzes Ratsmitglied!«

»Eben. Hacking will damit sagen, daß es uns besser anstünde, wenn wir rasch eines wählten.«

John fuhr mit beiden Händen durch sein schulterlanges Haar und erhob sich. Seine blaßblauen Augen funkelten wütend unter den beigefarbenen Brauen.

»Glaubt dieser Sarazene etwa, er könne sich in unsere innerstaatlichen Angelegenheiten einmischen? Ich sage nur eins: Krieg!«

Sam erwiderte: »Moment mal, Majestät. Du hast jetzt einen guten Grund, um wütend zu sein, sagte der alte Farmer, nachdem man ihn hereingelegt hatte – aber die Wahrheit ist, daß wir uns zwar ausreichend verteidigen können, aber nicht dazu in der Lage sind, eine Invasion zu beginnen und ein anderes Land zu okkupieren.«

»Okkupieren?« heulte John. »Wir werden die eine Hälfte der Bevölkerung erschlagen und die andere in Ketten legen!«

»Die Welt hat sich mächtig verändert, seit du starbst, John… äh… Majestät. Ich will nicht verhehlen, daß es andere Formen der Sklaverei gegeben hat als die jetzt vorherrschenden, aber ich habe keine Lust, mich jetzt in endlosen Definitionen zu verzetteln. Es hat keinen Sinn, den Beleidigten zu spielen, wenn einem die Trauben zu hoch hängen, das haben schon die Füchse erkannt. Wir brauchen lediglich einen weiteren Ratsherren zu finden, pro tem. Und den schicken wir dann zu Hacking.«

»Die Magna Charta sagt nichts über die Existenz eines Profem-Ratsherrn aus«, warf Lothar ein.

»Dann ändern wir sie eben«, sagte Sam.

»Das würde eine Volksabstimmung erfordern.«

John schnaufte ablehnend. Er und Sam Clemens hatten sich seiner Meinung nach schon genug über die Rechte des Volkes in den Haaren gelegen.

»Da ist noch was«, sagte Lothar, der zwar wieder lächelte, aber den verärgerten Tonfall in seiner Stimme nicht verbergen konnte. »Hacking verlangt, daß man es Firebrass erlaubt, in Parolando eine Inspektionsreise zu unternehmen. Er ist hauptsächlich an unserem Flugzeug interessiert.«

John ächzte: »Erfordert allen Ernstes, daß wir ihm erlauben, einen seiner Spione hier herumschnüffeln zu lassen?«

»Ich weiß nicht«, meinte Sam. »Firebrass ist Hackings Stabschef. Vielleicht sieht er uns mit ganz anderen Augen. Er ist Ingenieur und hat wohl auch einen akademischen Grad in Physik. Ich habe von ihm gehört. Was weißt du über den Mann, Lothar?«

»Er hat mich sehr beeindruckt«, sagte von Richthofen. »Er wurde 1974 in Syracuse, New York, geboren. Sein Vater war Neger, seine Mutter zu einer Hälfte Irin und zur anderen Irokesin. Er gehörte der Mannschaft an, die die zweite Marslandung vornahm und als erste den Jupiter umkreiste…«

Sam dachte: Die Menschheit hat es wirklich geschafft! Sie war auf dem Mond und später auf dem Mars gelandet. Und all das hatte weder etwas mit den Visionen Jules Vernes noch mit den bunten Groschenheften um Frank Reade jr. zu tun. All diese Erkenntnisse waren phantastisch, wenn auch nicht phantastischer als die jetzige Welt. Und schwer zu verstehen für einen Mann des neunzehnten Jahrhunderts. Es war geradezu unglaublich.

»Wir berufen noch heute die Ratsversammlung ein, John«, sagte Sam, »wenn du nichts dagegen hast. Wir werden eine Abstimmung über den Profem-Rat durchführen und schlage dafür Uzziah Cawber vor.«

»Cawber war einst Sklave, nicht wahr?« fragte Lothar. »Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Hacking sagte, er wolle keine Onkel Toms.«

Einmal ein Sklave, immer ein Sklave, dachte Sam. Selbst wenn er revoltiert, tötet, getötet wird, weil er sich gegen die Sklaverei erhoben hat – selbst nachdem man ihn hat von den Toten auferstehen lassen, sieht er sich selbst nicht als freier Mann. Geboren und aufgewachsen in einer Welt, die bis zum Halse in ihrer eigenen Schlechtigkeit steckt, ist jeder Gedanke, den er denkt, jeder Schritt, den er tut, von der Sklaverei begleitet, auch wenn sich ihre Formen ändern. Cawber wurde 1841 in Montgomery, Alabama, geboren, man brachte ihm, da er im Haus seines Besitzers als Sekretär dienen sollte, Lesen und Schreiben bei. Er tötete den Sohn seines Herrn im Jahre 1863, entkam, ging nach Westen und arbeitete hauptsächlich als Cowboy und Minenarbeiter. 1876 tötete ihn der Speer eines Sioux-Indianers; der Ex-Sklave fand den Tod durch die Hand eines Mannes, der sich selbst auf dem Weg in die Sklaverei befand. Cawber ist zufrieden mit dieser Welt – oder behauptet es jedenfalls –, da niemand ihn hier versklaven und in dieser Position festhalten kann. Aber er ist der Sklave seines eigenen Bewußtseins und seiner Reaktionen und Nerven. Selbst wenn er jetzt einen aufrechten Gang geht, würde er sich sofort wieder ducken, sobald jemand mit einer Peitsche knallt; und er wird den Kopf beugen, ehe ihm bewußt wird, was er tut…

Weswegen, oh, weswegen nur hatte man die Menschheit von den Toten wieder auferstehen lassen? Die Verhältnisse auf der Erde hatten sowohl die Männer als auch die Frauen zerbrochen, und auch jetzt würde sich ihnen keine Möglichkeit mehr bieten, dies rückgängig zu machen. Die Angehörigen der Kirche der Zweiten Chance behaupteten hingegen, daß ein Mensch sich verändern könne, und zwar grundlegend. Aber diese Leute waren auch eine Meute von Traumgummikonsumenten.

»Wenn Hacking Cawber einen Onkel Tom nennt, wird Cawber ihn umbringen«, sagte Sam. »Ich bin immer noch der Ansicht, daß er der geeignete Mann ist.«

John runzelte die Stirn. Sam war klar, daß er nachdachte. Möglicherweise fragte er sich jetzt, in welcher Form er Cawber benutzen konnte.

Sam warf einen Blick auf die Wasseruhr. »Es wird Zeit für den Kontrollgang. Kommst du mit, John? Ich bin gleich soweit.« Er nahm wieder Platz und machte einige Eintragungen in sein Tagebuch.

Dies gab John die Chance, das Haus als erster zu verlassen, wie es sich seiner Meinung nach für einen ehemaligen König von England und eines guten Teils von Frankreich geziemte. Obwohl Sam genau wußte, welcher Unfug es war, sich über derartige Protokollfragen Gedanken zu machen, wurmte es ihn doch, diesem Mann, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte, auch nur den geringsten Sieg zu gönnen. Aber dennoch: Bevor er John seinen winzigen Triumph streitig machte und seine Zeit damit vergeudete, sich auf eine Diskussion einzulassen, gab es Arbeiten zu erledigen, die wichtiger waren.

Vor dem Eingang der Salpetersäure-Produktionsstätte schloß Sam sich der Gruppe, die auch die sechs Ratsherren umfaßte, an. Der Kontrollgang durch die einzelnen Fabriken war nur kurz. Der Gestank, den die unterschiedlichsten Säuren erzeugten, war so schlimm, daß sogar eine Hyäne gekotzt hätte. Überall roch es durchdringend nach Alkohol, Azeton, Terpentin, Kreosol. In den Eisenhütten fiel der Lärm mit einer solchen Macht über sie her, daß eine Unterhaltung unmöglich wurde. In den Häusern, wo man Magnesium und Kalk produzierte, legte sich eine weiße Schicht über ihre Gesichter. Im Aluminiumwerk wurden sie einerseits beinahe geröstet, andererseits halb taub gemacht.

Die Waffenschmieden in den Hügeln arbeiteten im Moment nicht. Abgesehen von den aus weiter Ferne herüberdringenden Geräuschen der anderen Produktionsstätten, herrschte hier eine fast paradiesische Ruhe. Aber die Umgebung war alles andere als hübsch. Man hatte die Erde aufgewühlt, die Bäume gefällt, und der Rauch, den die weiter flußaufwärts befindlichen Fabriken erzeugten, lag schwarz und ätzend zwischen den Hügeln.

Van Boom, der aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert stammende Ingenieur, dessen Eltern Holländer und Zulus gewesen waren, kam auf sie zu. Er war ein gutaussehender Mann mit bronzefarbener Haut und lockigem Haar, maß beinahe einen Meter neunzig und wog weit über zwei Zentner. Er war während der Blutigen Jahre in einem Eisenbahnzug zur Welt gekommen. Obwohl er sie freundlich begrüßte (er mochte Sam; John tolerierte er nur), war das sonst übliche Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden.

»Sie ist fertig«, sagte er, »aber ich möchte, daß Sie sich dennoch meine Einwände anhören. Es ist ein hübsches Spielzeug, macht eine Menge Lärm, sieht ziemlich beeindruckend aus und wird seinen Zweck – Menschen zu töten – erfüllen. Aber ich bin immer noch der Meinung, an diesem ineffizienten Ding meine Zeit vergeudet zu haben.«

»Sie reden wie ein Kongreßmann«, sagte Sam.

Van Boom führte sie durch ein großes Tor in das Innere des Bambushauses, wo auf einem Tisch eine stählerne Handfeuerwaffe lag. Er nahm sie in die Hand. Selbst in seiner überdimensionalen Hand wirkte die Waffe noch groß. Dann ging van Boom an den anderen Leuten vorbei und in das Sonnenlicht hinaus. Sam war verdutzt. Er hatte die Hand ausgestreckt, aber van Boom hatte sie völlig ignoriert. Wenn er vorgehabt hatte, ihnen die Waffe draußen zu demonstrieren, warum hatte er dies nicht gleich gesagt?

»Ingenieure«, murmelte Sam achselzuckend. Man konnte ebenso gut versuchen, die Gedanken eines Maulesels zu lesen: van Booms Vorhaben waren ebenso unergründlich.

Der Ingenieur hielt die Waffe so, daß sich die Sonnenstrahlen auf ihrer silbergrauen Metallhülle brachen. »Diese Pistole hier trägt die Bezeichnung >Mark I<«, sagte er. »Sie heißt deswegen so, weil der Boß der Meinung ist, daß sie so heißen sollte.«

Sams Ärger schmolz dahin wie ein Eisblock, den man in die warmen Fluten des Mississippi geworfen hatte.

»Es handelt sich um eine von hinten zu ladende, einschüssige, mit einem Steinschloß versehene Handfeuerwaffe mit gezogenem Lauf und einer Sicherung.«

Er nahm die Pistole in die rechte Hand und fuhr fort: »Sie wird folgendermaßen geladen: Zuerst den Sicherungshebel auf der linken Seite des Laufes nach vorne drücken. Dadurch wird die Ladeöffnung freigelegt. Dann den Lauf mit der linken Hand nach unten drücken. Das bewegt den Abzugsbügel in den Griff hinein, von wo aus er wie ein Hebel auf den Hammer einwirkt.«

Van Boom griff in einen Beutel, der an seinem Gürtel hing, und brachte ein großes, braunes, halbkugelförmiges Objekt zum Vorschein. »Dies ist eure Bakelit- oder Phenolformaldehyd-Harz-Kugel vom Kaliber sechzig. Sie wird in den Lauf hineingedrückt, bis sie einrastet.«

Dann entnahm er dem Beutel ein Säckchen mit schwarzem Inhalt.

»Dies hier ist eine Ladung Schießpulver, eingewickelt in Zellulosenitrat, ähnlich der Schießbaumwolle. Irgendwann in der Zukunft werden wir anstelle von Schießpulver Kordit verwenden, natürlich nur dann, wenn wir dann noch Waffen dieser Art benutzen. Ich gebe die Ladung mit dem Zündhütchen jetzt in die Kammer. Das Zündhütchen besteht aus mit Schießpulver getränktem Nitratpapier. Nun hebe ich den Lauf mit der linken Hand wieder an seinen Platz. Jetzt ist die Mark I feuerbereit. Sollte in einem Notfall das Hütchen nicht zünden, so besteht auch die Möglichkeit, weiteres Pulver in das Loch einzufüllen, das Sie hier sehen. Im Falle einer Ladehemmung können Sie den Hammer auch mit dem rechten Daumen spannen. Aber achten Sie darauf, daß der auf der rechten Seite entstehende Feuerblitz nicht Ihr Gesicht trifft.«

Inzwischen hatte einer seiner Mitarbeiter eine hölzerne Zielscheibe herangebracht und stellte sie in einer Entfernung von zehn Metern auf. Sie stand auf vier Beinen. Van Boom wandte sich ihr zu, streckte den Waffenarm aus, umklammerte die Pistole mit beiden Händen und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um.

»Sie sollten sich hinter mich stellen, Gentlemen«, sagte er dann. »Der Luftwiderstand, dem das Geschoß ausgesetzt ist, wird dessen Oberfläche dermaßen erhitzen, daß es eine Rauchwolke produziert, anhand derer sie seinen Flug vermutlich werden verfolgen können. Aufgrund des geringen Gewichts der Kugel hat sie auch das vergleichsweise große Kaliber. Deswegen auch der Luftwiderstand. Sollten wir uns für diese Waffe entscheiden – wogegen ich allerdings bin –, könnten wir das Kaliber bei einem weiteren Prototyp vielleicht gerade auf fünfundsiebzig erhöhen. Die effektive Reichweite der Mark I beträgt fünfzig Yards, aber die Zielgenauigkeit nimmt nach dreißig rapide ab. Übrigens ist das, was sie innerhalb von dreißig Yards bringt, auch nicht gerade das Gelbe vom Ei.«

Der Hahn der Waffe war jetzt gespannt. Wenn van Boom den Stecher durchzog, würde der Hammer herunterfallen und das Zündhütchen in Brand setzen. Er drückte ab. Es klickte leise, dann krachte es. Die Kugel zog einen Rauchfaden hinter sich her und kämpfte taumelnd gegen den Wind an. Sam, der ihren Kurs anhand des ausgestreckten Arms von van Boom mitverfolgte, sah, daß der Wind ihre Bewegung stark beeinträchtigte. Aber dennoch schien der Ingenieur bereits eine Weile mit der Pistole geübt zu haben, denn das Geschoß verfehlte die Zehn nur um ein Haar. Krachend traf sie auf die Zielscheibe auf und riß ein großes Loch in ihre Oberfläche.

»Die Kugel wird einen Menschen zwar nicht durchdringen können«, sagte van Boom, »aber sie wird ein großes Loch in ihm hinterlassen. Und wenn sie einem Knochen nahe kommt, kann sie ihn sicherlich auch zerschmettern.«

Die nächsten Stunden bestanden darin, daß die Ratsherren nacheinander auf die Zielscheibe feuerten. Ganz besonders König John schien von der Schußwaffe begeistert zu sein, auch wenn er sich anfangs ein wenig furchtsam anstellte: Pistolen waren für ihn etwas völlig Neues. Die ersten Erfahrungen mit Schießpulver hatte er mehrere Jahre nach seiner Wiedererweckung gemacht, und bis dato war er nur mit Bomben und Raketen in Berührung gekommen.

Schließlich sagte van Boom: »Wenn Sie so weitermachen, meine Herren, werden unsere Kugeln entweder bald knapp werden oder völlig aufgebraucht sein. Es nimmt eine Menge Zeit in Anspruch, Geschosse dieser Art herzustellen, was übrigens einer meiner Gründe ist, weswegen ich gegen die Massenproduktion dieser Waffe bin. Des weiteren bitte ich zu bedenken, daß diese Pistole einen zu kleinen Aktionsradius hat und der Ladevorgang einen solchen Zeitaufwand erfordert, daß es einem guten Bogenschützen ohne weiteres möglich wäre, drei Pistoleros zu töten, während sie laden. Und dazu müßte er nicht einmal in die Reichweite ihrer Schußwaffen kommen. Außerdem sind die Geschosse, die diese Waffe verfeuert, im Gegensatz zu den Pfeilen eines Bogenschützen nicht wieder verwendbar.«

Sam erwiderte: »Das ist doch alles Quatsch! Diese Pistolen würden doch schon hauptsächlich deswegen zu unserer Stärkung beitragen, weil sie unsere militärische und technologische Überlegenheit demonstrieren. Noch bevor es zu einer Schlacht käme, würde die Hälfte jeder gegnerischen Armee bereits vor lauter Angst gestorben sein. Außerdem vergessen Sie, wie lange es dauert, einen erstklassigen Bogenschützen auszubilden. Mit dieser Knarre hingegen kann jedes Kind sofort umgehen.«

»Sicher«, nickte van Boom. »Aber ich frage mich, ob sie auch etwas treffen würden. Ich habe darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, unsere Leute mit stählernen Armbrüsten auszurüsten. Man kann sie zwar nicht so schnell handhaben wie Flitzebogen, aber sie benötigen auch nicht mehr Ausbildungsstunden wie Pistolen, und die Metallbolzen, die sie verschießen, sind wiederverwendbar. Des weiteren sind sie weitaus tödlicher als diese krachenden und stinkenden Spielzeuge.«

»O nein, mein Herr!« entgegnete Sam. »Ich bestehe darauf, daß Sie mindestens zweihundert von diesen Pistolen herstellen. Wir werden damit eine neue Kampfgruppe ausrüsten, die wir die >Parolando-Pistoleros< nennen. Man wird sie bald den >Schrecken des Flusses< nennen- Sie werden sehen! Warten Sie nur ab!«

 

Auf dem Zeitstrom
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